Sonntag, 4. Dezember 2005

Sharoniaden
Man ist schon im Normalfall gut beraten, israelische Politik nicht mit deutschen Massstäben zu messen. Die einzige westliche Demokratie im Nahen Osten ist schon im Alltagsgeschäft bereit, alle Kriegstaktiken dieser Demokratie gegen den politischen Feind anzuwenden. Wer heute der Gegner ist, kann morgen schon der Koalitionspartner sein, und alte Freunde können blitzschnell zu Todfeinden werden. Kaum eine Regierung der letzten Jahrzehnte hat eine volle Wahlperiode gehalten, selbst wenn es im Regierungslager fliegende Wechsel gab. Dieser unübersichtliche, ganz normale Irrsinn ist aber nichts gegen das, was jetzt passiert ist.

Da sind die beiden alten Männer auf der rechten und linken Seite, Ariel Sharon und Shimon Peres, von ihren jeweiligen Parteien Likud und Arbeiterpartei zusammengestaucht worden. Sharon bekam die Quittung für den Rückzug aus dem Gazastreifen, und Peres verlor die Wahl um den Vorsitz seiner Partei bei Ausnutzung aller Tricks gegen den linken Gewerkschaftsboss Peretz. Ursache dürfte der Ausverkauf der Gewerkschaftsinteressen an die Wirtschaftspolitik von Sharon sein. Likud und Arbeiterpartei haben sich also gegen einen Kurs der Mitte ausgesprochen, und jetzt ziehen die beiden alten Männer Sharon und Peres gemeinsam in die Schlacht der nächsten Wahl Ende März. Mit einer eigenen Partei namens Kadima, die den anderen das Fürchten lehren könnte. Bisher waren israelische Parteien Klientelparteien, jeder bot seiner Wählerschaft einen Deal an und versorgte sie in der Regierung mit Pfründen. Eine Mainstreampartei der Mitte gab es bislang nicht - jetzt ist sie da, und von Likud und Arbeiterpartei laufen die Mitglieder in Scharen über. Besonders der von Sharon mitbegründete Likudblock ist auf dem Weg ins politische Nichts. Nach Sharons Abgang tobt dort ein heftiger Machtkampf. Und für ihre treue Klientel der ärmeren Juden aus der arabischen Welt ist die alte Europäerpartei, die Arbeiterpartei plötzlich wählbar, denn der neue Chef ist einer die ihren.

Wenn sie nicht gleich zuu Kadima überlaufen. Die neue Partei der alten Männer hat gerade die besten Chancen, die jahrzehntelange gegenseitige Blockade von Rechts und Linksparteien in Israel aufzubrechen. Und mehr noch, wenn sie an die Macht gelangt, kann sie auf eine Beteiligung der Religiösen Kleinparteien verzichten und endlich die lange aufgeschobenen innerstaatlichen Reformen anpacken. Weder Sharon noch Peres verhalten sich besonders vorbildlich demokratisch, ganz im Gegenteil: Man darf ihnen ein grosses Mass an brutaler Machtpolitik und das Fehlen aller Skrupel gegenüber ihrer politischen Heimat unterstellen. Beide handeln eher wie Condottiere der Renaissance. Sie sind auf die Macht aus und praktizieren dabei politischen Pragmatismus bis zur Prinzipienlosigkeit. Vorbildliche Demokratie sieht anders aus. Aber im Moment scheint eine starke Partei der Mitte, die auch schmerzhafte Kompromisse im Friedensprozess mit breiter Mehrheit durchsetzen kann, die beste Lösung für die verfahrene Situation im Nahostkonflikt.

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