Dienstag, 9. November 2004

Und dann waren da heute
am Tag des Mauerfalls einerseits und am Tag des 1938er Pogroms andererseits, ein paar Herren mit Bomberjacken, Spingerstiefeln und sehr wenig Kopfbehaerung. Erst nur zwei, dann etwas mehr und am Ende doch eine ganze Anzahl, die da draussen vor dem Fenster rumlungerten und irgendwas vorzuhaben schienen.

Vielleicht eine spontane, kleine Demo, oder auch nur mal eben ein paar Punks anmachen, oder Türken, oder vielleicht auch hier rüberkommen.



Hier steht nicht gross drauf, dass hier eine jüdische Insititution drin arbeitet. Vielleicht wussten sie es auch nicht. Jedenfalls, als es ungefähr ein halbes Dutzend waren, kamen ein paar Polizisten zu Fuss, und wenige Augenblicke später dann das obige Fahrzeug mit Blaulicht. Das kommt hier übrigens öfters; manchmal auch um 4 Uhr Nachts, wann immer halt was Besonderes in der Luft liegt.

Man gewöhnt sich an die Bedrohung. Die ist irgendwie sehr abstrakt, nicht wirklich greifbar, und solang ein paar Typen sich nur die falsche Ecke zum Rumstehen raussuchen, um dafür eine halbe Stunde im Regen eingehend befragt zu werden, bleibt es auch abstrakt. Vielleicht etwas realer an solchen Tagen, mag sein, aber kein Grund, sich das Dasein vermiesen zu lassen.

Man kann an Deutschland viel aussetzen, runtermachen, sich beschweren. Dass es solche enthaarten Typen gibt, ist ein Problem. Aber dass sie hier keine zehn Meter über die Strasse kommen, ohne auf so ein grosses Auto zu treffen, ist doch irgendwie sehr angenehm zu wissen. Nachdem es aber keinen Anruf gab, von wegen, dass die was von mir wollten, hatten sie wohl was anderes vor. Die Spontandemo, vielleicht.

Danke Deutschland. Auch und gerade heute.

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Es bleibt gruslig. Dass ich beim Betreten eines jüdischen Museums gefilzt würde, hatte ich erwartet. Dass ich nicht in ein jüdisches Restaurant komme, ohne zu klingeln, durch eine Piepsepforte zu gehen, meine Tasche untersuchen zu lassen - hat mich dann doch ein wenig gewürgt. Vor allem ohne Aussicht, dass sich das in absehbarer Zeit entspannt.

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Scheint fast so, als würden Juden in Deutschland sicherer leben als in Israel oder den USA. Allerdings haben wir auch keinen Bürgerkrieg.

Ich fände es trotzdem schöner, die Polizei wäre gekommen, weil es Nazis waren und nicht, weil sie sich vor einer jüdischen Einrichtung getroffen haben.

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Es gibt aber auch Gegenden in Deutschland, in denen solche enthaarte Typen nicht so schnell auf ein Polizeiauto stoßen. Ob die vielen Opfer von Neonazis in diesen Gegenden wohl auch ein "Danke Deutschland" im Sinne haben?

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Ne, nicht. Aber es ist immerhin ein Anfang. "Hier" ist auch nicht unbedingt problemfrei, weil auch menche Migranten die Meinungder Glatzenin Bezug auf Juden teilen.

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Dass der Antisemitismus ein viele Menschen verbindendes Element ist, klar. Der Unterschied, in Deutschland war er konstituierende Ideologie zur Volk und Nationswerdung.
Aber zurück zu den Neonazis und dem Danke: In den Neunzigern waren diese für die Politik sehr nützlich. Die faktische Abschaffung des Asylrechts durch eine Verfassungsänderung, ging vor allem in Folge der Pogrome von Rostock, Hoyerswerda, Mölln usw, durch den Bundestag. Die Todesopfer unter Flüchtlingen und MigrantInnen gehen seit der Wiedervereinigung in die Hunderte. Dass jüdische Einrichtungen durch die Polizei beschützt werden müssen, wie in einem Kommentar weiter oben schon angeführt, ist keine rein deutsche Erscheinung mehr, dennoch eine deutsche Normalität, die ja für sich schon bezeichnend ist. Dass der Antisemitismus insgesamt am ansteigen ist, ist ja wohl auch keine allzugroße Neuigkeit.
Wenn es dich trotzdem drängt, an Deutschland ein Dankeschön auszusprechen, ist das selbstverständlich deine Sache. So ganz allgemein gesprochen aber, ist es doch ein wenig vermessen, oder nicht?

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Der Antisemitismus steigt immer an, wenn eine inkompetente Organisation wieder Geld für das nächste bescheuerte Programm braucht. Tut mir leid das zu sagen, aber in diesem Frühjahr hab ich mit den grossen Nasen lang und breit gesprochen. Die Orga, die letztes Jahr den Antisemitismus auf dem höchsten Stand seit dem 2. Weltkrieg gesehen hat, sieht ihn jetzt, nach ihrer Task Force Blubberei, am abklingen. Die, die das letztes Jahr verpennt haben, hatten eine Studie, dass es gerade sehr schlimm ist, und sie wüssten auch genau, wie sie die zusätzlichen EU-Gelder einsetzen würden.

Letztere Orga hat vor 2 Jahren einen Internet-Freak durch Europa geschickt, der lang und breit erklärt hat, dass man die Nazis im Netz unter Kontrolle hat. Jetzt heisst es, man habe sie überhaupt nicht unter Kontrolle und man müsse was tun. Und das sind alle genau die Leute, die seit Jahren an dem Problem dran sind. Wenn es schlimmer wird, kann es nicht sein, dass sie schlichtweg versagt haben und dann schleunigst Platz für andere Projekte machen sollten? Ich sehe hier in Berlin so viel Hully Gully, da wird eine Veronika Ferres angeschleppt für einen Toleranz-Event, und dann wundern sie sich noch, wenn die Leute auf der Strasse das irgendwie blöd finden?

Ich persönlich kann nur sagen: Ich hab den Eindruck, dass alles sehr viel besser geworden ist. Als ich noch zur Schule ging, waren manche Lehrer alte Nazis, und niemand hat das gejuckt, wenn sie von der tollen Zeit bei der Partisanenbekämpfung erzählt haben. Die meisten jungen Leute haben ein sehr unverkrampftes Verhältnis zum Thema, sehr viel Neugier, und das war vor 10 jahren auch noch nicht so. Gleichzeitig öffnen sich die Gemeinden für alle Interessierten. Und ich bin der festen Überzeugung, dass man trotz aller Probleme - blabla - in 30 jahren sagen wird, dass die zeit um 2000 eine Art goldenes Zeitalter für die deutschen Juden gewesen sind. Übrigens, auch so ein Blog wäre vor 15 Jahren jüdischerseits inhaltlich vollkommen undenkbar gewesen.

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